„Liane und das Land der Geschichten“ – Elif Shafak
Sagt euch der Name Elif Shafak etwas? Sie gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen der Türkei und ihre Werke wurden in über 50 Sprachen übersetzt. Sie setzt sich für internationale Beziehungen, Gleichberechtigung und freiheitliche Werte ein und wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Nun ist mit „Liane und das Land der Geschichten“ ihr erstes Kinderbuch erschienen. Das ganz besondere Thema ist hier: die besondere Kraft der Fantasie, die durch das Lesen angeregt wird. Doch leider lesen immer weniger Kinder und spielen auch nicht mehr frei und kreativ draußen…
Die Sache mit dem Namen
Die zehnjährige Liane ist ein ruhiges und eher schüchternes Mädchen, das nicht viele Freund*innen hat. Sie wird in der Schule wegen ihres Namens von den meisten Kindern gemobbt, es werden Spottlieder über sie gesungen und auch manche Erwachsene sprechen es immer wieder an. Auch im Alltag hat sie nicht besonders viel Freude. Ihre Eltern arbeiten viel in Job und Haushalt, auf der Straße oder mit anderen Kindern aus dem Haus darf sie nach Verboten der Mutter nicht spielen und Geschwister hat sie auch keine. Als Haustiere hat sie leider keinen Hund oder ein Pony, sondern zwei kleine Schildkröten. Das Einzige, das ihr eine große Freude bereitet, ist das Lesen. Und das macht sie viel und nur allzu gerne. Sie liest Romane, Gedichte, Abenteuerbücher und auch sehr gerne Bücher über ihr Lieblingsthema Geographie.
Der Schatz muss mit!
Neben einem großen Atlas hütet sie in ihrem Zimmer, das ihr Zufluchtsort ist, noch einen weiteren Schatz: einen kleinen Globus, den sie zufällig in der Schulbücherei gefunden hat. Sie ist sich sicher, dass dieser etwas Besonderes ist, und das nicht nur, weil er blinkt. Sie fühlt es irgendwie und hört sogar manchmal eine leise Melodie. Und noch eins ist anders an diesem Globus. Es ist ein weiterer Kontinent, der ungefähr die Form eines Buches hat, zu sehen, von dem Liane aber noch nie gehört hat.
Eines Tages berichten ihre Eltern, dass sie ganz kurzfristig auf eine Geschäftsreise müssen und dass sie für eine Woche zu den Großeltern fahren muss. Die mag sie sehr gerne, aber sie wundert sich etwas über diesen Plan. Zufällig hört sie ein Gespräch der Eltern mit, dass ihr Vater im Ausland operiert wird und die Eltern Liane nur nicht damit belasten möchten. Sie lässt sich nichts anmerken und packt ihren Koffer für die Reise. Viele Bücher und der Globus müssen natürlich mit.
Eine neue Welt voller Fantasie und Geschichten
Bei den Großeltern wird sie sofort liebevoll empfangen. Liane richtet sich im alten Zimmer ihrer Mutter ein und holt – wie jeden Tag – den magischen Globus heraus. Doch ihr fällt auf, dass dieser nicht mehr so strahlt wie zuhause und sie vermutet, dass es daran liegen kann, dass an diesem Ort nicht so viele Bücher sind. Sie bemerkt außerdem, dass sie durch das Fenster beobachtet wird. Im Garten stehen ein Mädchen und ein Junge, mit denen sie zaghaft ins Gespräch kommt. Beide berichten ihr, dass sie von einem fernen Ort kommen und dem Globus gefolgt sind. Eigentlich leben sie im Land der Geschichten, wo alle kreativen Gedanken gesammelt werden. Doch seit auf der Erde immer weniger Kinder lesen und frei und kreativ draußen spielen, verdorrt das Land mehr und mehr.
Nachdem sie den magischen Globus wieder aufgeladen haben, zeigen die beiden Kinder Liane ihr Land. Dort treffen sie geflügelte Pferde, eine Hexe, Feen und verbotene Brücken und allerlei anderes Fantastisches. Am Ende des Besuches darf Eliane den Globus behalten. Nach der Woche bei den Großeltern freut sie sich, ihre Eltern wieder zu sehen und auch in der Schule kann sie alles nach der Reise ins Land der Geschichten ganz anders wahrnehmen.
So gefällt uns das Buch
Die Geschichte lässt sich in zwei ganz unterschiedliche Abschnitte unterteilen. Im ersten, längeren Teil geht es vor allem um Lianes Leben und ihre Traurigkeit aufgrund der verschiedenen Dinge, die sie bedrücken. Sie wird wegen ihres Namens gemobbt, hat wenig Freunde und nicht viele Gelegenheiten zum freien Spielen. Bücher sind ihre einzige Stütze und Freude im Leben. Im zweiten Teil entdeckt sie mit Hilfe des magischen Globusses und der dazugehörigen Kinder das Land der Geschichten und erlebt dort Abenteuer mit Hexen, Feen und anderen magischen Dingen, die es eigentlich nur in Büchern geben kann. Dieses Erlebte gibt ihr neues Selbstbewusstsein und eine heilsamere Sichtweise auf den Alltag und die vielen Dinge, die sie bisher gestört haben.
Das Buch ist etwas ganz Besonderes und deswegen vielleicht auch nicht für jede*n etwas. Die erste Hälfte der Geschichte ist recht melancholisch und Liane kann einem zum Teil wirklich Leid tun. Warum auch immer darf sie nicht mit Nachbarskindern spielen, hat kaum Freunde und wird geärgert. Sie versucht viel brav zu sein, um nicht negativ aufzufallen – sowohl zuhause als auch in der Schule. Aber zum Glück hat sie die Geschichten in ihren Büchern, die ihr, zusammen mit ihrem Tagebuch, als Rückzugsort dienen. Das „wirkliche“ Eintauchen in die Welt der Geschichten kann ihn dann auch noch viel helfen. Besonders für sehr empathische Kinder und ruhigere Kinder ist das eine Geschichte zum Hineinfühlen. Vor acht Jahren würden wir das Buch nicht (vor)lesen. Der Sprachstil gefällt mir sehr gut und auch die Botschaft, dass Fantasie, Lesen und freies Spiel unglaublich wichtig sind.
Elif Shafak, Liane und das Land der Geschichten. Ein Buch über die Magie des Lesens, übersetzt von Gerhard, Meier, illustriert von Zafer Okur, Ars Edition Verlag 2020.