Gefühlsstarke Kinder und das Größerwerden: „Du bist anders, du bist gut“ – Nora Imlau
Im Sommer des letzten Jahres begeisterte uns schon Nora Imlaus Buch „ So viel Freude, so viel Wut“, bei dem ich das Gefühl hatte, dass sie genau mein Kind beschreibt und genau um die Hürden weiß, die manchmal im Alltag auch bei uns auftauchen. Seitdem ist der Begriff „gefühlsstarke Kinder“ in aller Munde. Es wächst ein bisschen die Hoffnung, dass die starken Gefühlsregungen, welche diese Menschen empfinden, nicht mehr abgetan und mit einem „stell dich nicht so an“ weggewischt werden. Im Herbst ist jetzt mit „Du bist anders, du bist gut“* der zweite Band erschienen, bei dem der Hauptfokus nicht mehr auf dem Baby- und Kleinkindalter liegt, sondern gefühlsstarke Kinder beim Größerwerden begleitet werden.
Inhalt
Gefühlsstark, was ist das?
„Die besondere Kombination aus Wildheit und Verletzlichkeit ist keine Störung, kein Anzeichen einer Krankheit, kein Fehler im System.“
Du bist anders, du bist gut, S. 12
Nora Imlau stellt zunächst fest, dass viele Eltern bei kleineren Kindern vielleicht noch ein Auge zudrücken würden, wenn es an Fähigkeiten zur Selbstregulation fehlt. Spätestens ab dem Grundschulalter komme dann aber doch der Punkt, an dem das Kind doch funktionieren solle und anderes nicht mehr akzeptiert werde. Hier ist dann wieder, wie schon beim ersten Buch, ihre Botschaft: auch diese Kinder sind normal. Man muss begreifen, was in ihnen vor sich geht und wie wir sie begleitend unterstützen können.
Was aber sind überhaupt gefühlstarke Kinder? Hier stellt sie acht typische Eigenschaften vor, die immer wieder zu finden sind und berichtet auch darüber, wie unterschiedlich die Fähigkeiten zur Selbstkontrolle sowie die Anpassungsfähigkeiten sind.
„Es zeigt sich vielmehr bereits in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt, dass unsere Kinder mit unterschiedlichen „Werkseinstellungen“ ins Leben starten und auf dieselben Reize ganz unterschiedlich reagieren.“
Du bist anders, du bist gut, S. 26
Natürlich wird es im Laufe der Jahre für Kinder wie Eltern anders, aber nicht unbedingt leichter. Aus dem Auf- den- Boden- Werfen wird irgendwann ein großes Bedürfnis, alles lang und ausgiebig auszudiskutieren. Der große Bewegungsdrang bleibt und dem muss Raum gegeben werden. Große Fragen unserer Umwelt werden von gefühlsstarken Kindern sehr häufig intensiv überdacht, so dass sie zum Teil selbst darunter leiden.
Was passiert beim Größerwerden?
Das menschliche Gehirn ist niemals fertig ausgebildet, ständig unterliegt es Veränderungen. Doch nie so sehr wie in der späten Kindheit und in der frühen Jugend. Und auch hier zeigen sich wieder die besonderen Vorgänge im Gehirn gefühlsstarker Kinder, die alle vor einige Herausforderungen stellen, aber auch große Chancen bieten. Extrem wichtig sind für die Kinder hier die Bezugspersonen und sichere Bindungserfahrungen. Mit einem liebevollen Erziehungsstil ohne viel Druck und Strafen können die besonderen Eigenschaften dieser Kinder später zu einem großen Vorteil heranreifen. Andererseits sind laut einer US- Studie bei gefühlsstarken Kindern, die eben diese liebevolle Begleitung nicht genießen konnten, die Chancen für Probleme (Drogen und andere Gefahren), etwas erhöht.
„Gefühlsstärke ist keine Krankheit und keine Störung, sondern ein Temperament unter vielen.“
Du bist anders, du bist gut, S. 59
Auch wenn man mittlerweile sehr viel über das Gefühlsleben dieser Kinder weiß, so ist das Wissen doch im Alltag und bei der Allgemeinheit nicht weit verbreitet. Eltern schlägt oft eine Welle von Vorwürfen gegenüber, warum ihrer Kinder so sind, wie sind sind. Viele haben wohl schon einmal gesagt bekommen, was denn da falsch gelaufen sei und warum denn die Eltern da nicht mal endlich durchgreifen, das könne ja nicht so weiter gehen.
„Ein Kind, das sich problematisch verhält, ist kein Problem, es hat ein Problem. Es braucht Hilfe, keine Verurteilung.“
Du bist anders, du bist gut, S. 68
Wie kann man unterstützen?
Ist das Gefühlsspektrum bei Babys noch sehr überschaubar, kommen ab dem Schulalter immer mehr neue Gefühle hinzu, mit denen alle Kinder umzugehen lernen müssen. Einerseits möchten sie Nähe, andererseits Freiheit und dazwischen kann eine Menge Reibung entstehen. Mit zu viel Druck und Vorwürfen von außen können sie oft noch schwieriger umgehen als andere Kinder. Nora Imlau sieht hier eine große Chance, diesem mit aktivem Zuhören zu begegnen, so dass die Kinder sich verstanden und gehört fühlen. Unter Anderem durch gutes Vorleben, klare Routinen, Bestärkung, Vertrauen und Geduld können die Bezugspersonen es schaffen, Kinder in ihrer Fähigkeit zur Selbstregulation zu bestärken. Natürlich ist es ebenfalls wichtig, dass bei dem Ganzen sich selbst nicht aus dem Blick zu verlieren. Dies klingt aber wahrscheinlich leichter als es ist.
Es folgen noch viele Anregungen Imlaus, wie man die täglichen Dramen, die sich in vielen Familien gefühlsstarker Kinder abspielen, vielleicht etwas abmildern kann. Seien es Probleme mit der Kleiderwahl, der Lautstärke oder dem Schlafen – versteht man die Hintergründe, lässt sich manches vielleicht besser regeln. Die Themen Umgang mit Geschwisterkindern, Stress in der Schule und auch Regelung des Medienkonsums werden in den letzten Kapitel ausführlich beleuchtet.
Fazit
Ebenso wie der Vorgänger, hat mir „Du bist anders, du bist gut“ enorm gut geholfen, mich in die Gefühlswelt der betroffenen Kinder hineinzuversetzen. An vielen Stellen hatte ich wieder das Gefühl, dass die Autorin mein Kind genau zu kennen scheint und mich bzw. unserer Familie persönlich ansprechen möchte. Immer wieder hatte ich dieses „ja, genau so ist es bei uns!“- Gefühl. Und immer wieder habe ich mich in meinen Sorgen aber auch bei meiner Hochachtung vor meinem Kind verstanden gefühlt. Das Buch kann eine große Stütze für Familien mit gefühlsstarken Kindern sein und zwar in vielerlei Hinsicht. Zum einen weiß man nach der Lektüre, dass man nicht alleine ist und dass andere Familien ebenfalls vor diesen Problemen stehen. Und man hat Antworten parat auf die vielen, oft übergriffigen, Bemerkungen, die doch oft vom Fremden oder aus der Familie kommen.
Man lernt auch, dass es nichts Negatives ist, gefühlsstark zu sein und dass dieses Verhalten auf keinen Fall auf ’schlechte Erziehung‘ oder eine Krankheit zurückzuführen ist und auch nicht eine schlechte Charaktereigenschaft dieser Person ist. Danke dafür! Die vielen Hürden des Alltags, die zur Sprache kommen, werden vielen Familien sicherlich sehr bekannt vorkommen und haben sie schon das eine oder andere Mal hilflos und erschöpft resignieren lassen. Viele Tipps zur für alle Beteiligten einfacheren Gestaltung des Alltags lassen leicht umsetzen und werden bestimmt gerne angenommen werden. Nicht zuletzt das Kapitel über die Selbstfürsorge (der Eltern!) kann dabei helfen, gefühlsstarke Kinder mit neuer Kraft beim Großwerden zu unterstützen.
Nora Imlau, Du bist anders, du bist gut. Gefühlsstarke Kinder beim Großwerden begleiten, Kösel Verlag 2019.
Wir haben das Buch dankenswerterweise vom Kösel Verlag für eine Rezension zur Verfügung gestellt bekommen.
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Ist nicht „Gefühlsstärke“ eine Regulationsstörung, also eine STÖRUNG? Etwas, das das Kind auch in den Griff bekommen muss, genauso, wie ein ADS-Betroffener lernen muss, mit den vielen Umweltreizen so umzugehen, dass er seinen Alltag bewältigen kann?
Ich finde den Begriff „Gefühlsstärke“ schwierig. „Hochsensibilität“ fände ich passender. „Gefühlsstärke“ sagt am Ende den Geschwistern, dass mit IHNEN etwas nicht stimmt, dass ihre Gefühle zu schwach sind und sie vielleicht auch mal Wutausbrüche zeigen sollten. Schwierig finde ich auch diese Idee der totalen Rücksichtnahme. Wir alle müssen im Alltag „funktionieren“. Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, wir müssen auf Gesetze und Vorgaben Rücksicht nehmen, uns zurücknehmen, schon auch als Kinder in gewisser Weise (leise sein, Baby schläft, das Trompeteüben vom Bruder ertragen, obwohl es uns nervt, nicht nur Süßigkeiten zum Mittag essen, auch Mathehausaufgaben machen, selbst, wenn wir das öde und anstrengend finden, nicht nackt im Sommer rausgehen, wenn wir älter als 5 sind usw.). Zu lernen, zu „funktionieren“ ist mMn eine Ausbildungsvoraussetzung, VOR ALLEM in praktischen Ausbildungen, in denen man dann mit 16 sofort 8 Stunden am Tag arbeiten muss, oft anfangs öde, repetitive Aufgaben. Bis dahin müssen wir das also alle gelernt haben, auch die gefühlsstarken Kinder.
Was ist schlecht daran, einem Kind oder Jugendlichen zu vermitteln, dass nicht alle so sind, wie er selbst, dass er in bestimmten Punkten Defizite hat – hier eben bei der Selbstregulation, bei ADS bei der Aufmerksamkeit bei Ablenkung oder Eintönigkeit etc. – aber in anderen Punkten auch Stärken, vielleicht sogar bestimmte Vorteile DURCH seine Defizite (ADS – man kann sich intensiv auf bestimmte Aufgaben konzentrieren, die man mag, man nimmt mehr Details wahr als andere)? Vielleicht gibt es ja auch Vorteile des gefühlsstarken Kindes. Es nimmt, falls das mit Hochsensibilität gleichzusetzen ist, ebenfalls von bestimmten Reizen mehr wahr als andere und das kann z.B. in bestimmten Berufen oder bestimmten Aufgaben ein Vorteil sein. Es hat möglicherweise mehr Energie, was evtl. beim Sport oder bei körperlich fordernden Aufgaben ein Vorteil sein kann.
Kinder (und Jugendliche, selbst Erwachsene) merken normalerweise, wenn sie anders sind, wenn sie Schwierigkeiten bei Dingen haben, die für andere völlig problemlos sind. Wenn das die Impulskontrolle ist, kommen natürlich auch Fragen: Warum raste ich so schnell aus bei Dingen, die andere gar nicht stören? Das sollte man mMn nicht mit „du hast stärkere Gefühle als andere, also einen Vorteil, die anderen fühlen nicht so intensiv“ beantworten, sondern mit „du hast eine andere Hirnchemie, daher fällt es dir schwerer, dich zu kontrollieren, während es anderen in diesen Situationen ganz leicht fällt, ABER du kannst auch LERNEN, das zu schaffen, du brauchst nur länger! Genauso, wie Menschen mit LRS länger brauchen, um Rechtschreibung zu lernen. Oder Menschen mit Motorikproblemen länger brauchen, um zu lernen, wie man einen Ball fängt oder auf einem Bein balanciert!“ Denen sagt man ja auch nicht, dass sie wackelstark, die merken ja auch, dass alle anderen auf dem Schwebebalken balancieren können, nur sie sofort runterfallen. Da hilft es, zu sagen, dass sie das auch lernen können, wenn sie deutlich länger üben als die anderen und das das keine Schande ist. Natürlich hilft es auch, auf andere Stärken hinzuweisen. Vielleicht kann jemand nicht auf dem Schwebebalken balancieren, aber ganz tolle Lieder schreiben oder er kennt alle Hauptstädte Europas schon in der 2. Klasse. Das wäre dann eine Stärke.
Ich finde es keine Schande, eine Schwäche zu haben, vor allem, wenn man herausfindet, wie man damit umgeht und wenn das einiges erklärt, das einen immer irritiert hat – „warum können das (gefühlt) alle, nur ich nicht?! Was kann ich tun, um das auch zu lernen?!“ – aber ich denke, es sollte so benannt werden, dass kein Missverständnis entsteht. Ein Mensch mit Downsyndrom ist wörtlich oft „gefühlsstark“ – er ist bei Freude ausgelassener, bei Wut schneller wütend, bei Trauer zieht er sich oft ganz zurück und oft ist es sehr empathisch, versteht sehr gut, wie er auf die Gefühle anderer eingehen muss. Das kann man ihm auch (manchmal) vermitteln. Es würde aber nicht erklären, warum er bestimmte Defizite hat, z.B. Schwierigkeiten mit der deutlichen Aussprache oder mit dem Lesen- und Schreibenlernen. Ihm da zu sagen „du bist gefühlsstark“ brächte nichts und würde auch keinen Trost geben, wenn er sieht, wie alle anderen Bücher lesen, während er erst einzelne Wörter erkennt. Es wäre auch gemein, ihm seine Behinderung zu verschweigen und ihn raten zu lassen, warum alle anderen problemlos Dinge können, die er erst sehr spät oder gar nicht lernen kann.
Wäre es nicht für das „gefühlsstarke“ Kind ebenso?
Und was mir fehlt: Wie sollen die Geschwister damit umgehen und die Mitschüler?
Ein Wutausbruch kann direkt jemanden verletzten – der wird dann vom geworfenen Stuhl getroffen – oder indirekt jemanden verletzten – der beobachtet die Situation und bekommt Angst vor dem Bruder oder Mitschüler. Hier gilt es mMn, Hilfe anzubieten und dem betroffenen Kind das eben auch zu erklären und Strategien mitzugeben, wie die Wut oder der Frust so ausgelebt werden können, dass eben keiner zu Schaden kommt, auch nicht indirekt. Für mich würde das bedeuten, bei Wutanfällen zu lernen, in ein leeres Zimmer, Badezimmer usw. zu gehen und dort „runterzukommen“. Ja, das kann vermutlich länger dauern. Aber sollte man hier nicht auch allen Betroffenen dem „gefühlsstarken“ Kind und den Kindern in seiner Umgebung erklären, wie sie damit umgehen, wie sie sich selbst und andere schützen, dass nicht einer durch sein So-Sein immer Recht hat und der andere zusehen muss, wie er sich schützen kann oder aus der Schusslinie geht?
Ich fände es schwierig, jemandem zu vermitteln „du bist nun mal so und alle anderen müssen lernen, damit zurecht zu kommen“. Besser wäre, „du bist so, weil… und du wirst nach und nach lernen, damit zurecht zu kommen und möglichst wenige Menschen in deiner Umgebung zu „behindern“. Ja, das ist Funktionieren. Aber so funktioniert doch auch unser Alltag! Wir machen ganz viel, das andere Menschen möglichst nicht behindert, wir sind höflich, wir essen mit Besteck, wir bedecken uns auch im Sommer, wir lassen unsere Wut nicht an unseren Mitmenschen aus, auch, wenn wir gerade so richtig geladen sind, weil wir doch wissen, dass sie möglicherweise dann Angst bekommen oder verletzt werden könnten.
Rücksicht nehmen wir auch die Menschen, von denen wir wissen, dass sie das alles nun gar nicht schaffen. Das sind oft schwer gestörte Menschen, oft psychisch schwer gestört, manchmal durch bestimmte Einschränkungen teilweise unfähig, erwartetes Verhalten zu zeigen. Zu schwer gestört landen sie in der geschlossenen Psychiatrie. Oder wir gehen ihnen aus dem Weg, weil sie bspw. gewalttätige Alkoholiker sind. Das wollen wir doch für unser „gefühlsstarkes“ Kind nicht, oder?
Da wäre doch eine Perspektive, wie man langfristig lernt, sich so zu verhalten, dass man möglichst nicht negativ auffällt, statt anderen zu vermitteln, dass man bitteschön so sein darf, wie man ist, auch wenn sie das massiv einschränkt und sie Ängste vor einem entwickeln oder Hemmungen, weil sie sich extrem auf einen einstellen müssen.
Denn eines dürfte klar sein: Eine gewisse Rücksichtnahme zeigen viele in Situationen, denen sie nicht entkommen können, aber wenn die Rücksichtnahme ihnen zu viel abfordert, dann werden sie diese Situationen, also auch Menschen, MEIDEN, sobald sie das können!
Das möchte man doch als Perspektive für sein Kind nicht! Man möchte nicht das Kind groß ziehen, bei dem viele später denken „glücklicherweise muss ich mit dem meine Freizeit nicht verbringen, ich habe Angst vor dem, auf den muss ich immer Rücksicht nehmen!“